04.03.2013

Verbrechergene und Bildungstalente



Früher meinte man, Kriminalität sei erblich bedingt und könne anhand der äusserlichen Erscheinungen festgestellt werden. Eine solche biologistische Sichtweise findet sich vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie beruht auf der soziobiologischen Grundannahme, dass Verhaltensunterschiede vor allem genetisch bedingt seien und bildete die Grundlage für allerlei Gräueltaten - meist rassistisch begründet - im 20. Jahrhundert. Ein wichtiger Vertreter dieser Richtung war etwa Cesare Lombroso, ein italienischer Arzt und Professor der Gerichtsmedizin, mit seinen Schriften zu Verbrechern und ihren körperlichen Veranlagungen. Auch Samuel R. Wells, der ein umfangreiches Werk zu Physiognomie und Charaktermerkmalen geschrieben hat, vertritt solche Ansätze.
Wells (1875, S.126) ; Horn (2003, S 22)
  

Bis man sich bewusst wurde, dass Kriminalität eine gesellschaftliche Konstruktion ist.  Kriminell ist, was von der Gesellschaft - dem Gesetzgeber - als kriminell  bezeichnet wird. Z.B. sind 72 Mio Abgangsentschädigung für einen Wirtschaftsführer nicht kriminell. Hingegen ist Ladendiebstahl ein Gesetzesbruch. Und langsam setz sich auch die Erkenntnis durch, dass deviante Verhaltensweisen nicht angeboren und ererbt, sondern ebenfalls - mit einigen wenigen Ausnahmen - sozial gemacht sind: Menschen wachsen in unterschiedliche soziale und kulturelle Welten hinein und leben unter unterschiedlichsten Lebensbedingungen, welche auch zu unterschiedlichen Verhaltensmustern führen.


In der Bildung sind wir noch nicht so weit. Zwar meint Duru-Bellat (2002), kein seriöser Wissenschaftler würde heute noch die Vererbung als entscheidenden Prozess der intellektuellen Entwicklung betrachten, im Alltag der Bildungsdiskussion jedoch wird nach wie vor in diesen Kategorien gedacht und gehandelt. Da wird von „Begabten“ und „wenig Begabten“ gesprochen, als ob schulische Eignungen eine genetisch bedingte, angeborene  Eigenschaft wäre. Auch das sogenannte meritokratische Prinzip mit der Formel Schulerfolg = Talent + Leistung beruht im Grunde genommen auf solchen Annahmen. Dabei werden „Begabte“ speziell gefördert und haben eine strahlende Zukunft vor sich. Und so wie Kriminelle in Anstalten abgeschoben werden, um sie zu "re-sozialisieren", werden in der Schule „weniger Begabte“ in Sonderklassen und Sonderschulen platziert, um ihre intellektuellen Defizite zu beheben. Stigmatisiert werden beide und vielfach sind es, in beiden Fällen, diese Korrekturmassnahmen und ihre stigmatisierende Wirkung, welche für die Integrationsprobleme in die Gesellschaft verantwortlich sind. Also gerade das Gegenteil von dem, was vordergründig beabsichtigt wird.

Auch in der Bildung wird vergessen, dass die schulischen Standards nicht vom Himmel fallen, sondern gesellschaftliche Konstrukte darstellen. Dass Sprache, Mathematik und Naturwissenschaften wichtiger sind als Geographie, Turnen  und Musik, ist nicht gottgegeben, sondern von uns Menschen so festgesetzt. Und dass einige Kinder mit diesen Standards besser und andere weniger gut zurechtkommen, ist auch nicht genetisch bedingt oder von einer höheren Macht vermittelt, sondern vielfach die Folge davon, dass diese Standards eben den Sozialisationsbedingungen einzelner Bevölkerungsgruppen besser oder weniger gut entsprechen.

Die schlechten SchülerInnen sollten sich also merken (und die guten ebenso), dass ihre schwache / starke Position in der Schule nicht Schicksal ist, nicht vom Indianer im Baum oder anderen höheren Mächten so zugeteilt sind, sondern gesellschaftlich gewollt und somit korrigierbar ist. Sowohl auf der individuellen Ebene als auch strukturell, durch andere Leistungsdefinitionen, durch andere strukturelle Ausgestaltungen und durch andere Prozesse der Förderung und der Selektion.
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Duru-Bellat, Marie (2002), Les inégalités sociales à l'école. Genèse et mythes. Paris: Presse Universitaire de France
Horn,David G.(2003), The Criminal Body: Lombroso and the Anatomy of Deviance. New York: Routledge. 
Lombroso, Cesare (1894), Der Verbrecher (homo delinquens) in anthropologischer, ärztlicher und jusristischer Beziehung . Hamburg: Verlagsanstalt und Druckerei AG
Wells, Samuel R.(1875), The New Physiognomy or Signs of Character as Manifested through Temperament  and External Forms and Especially in “The Human Face Divine”.  New York: S.R. Wells Publisher

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